Varian Fry – Von Berlin nach Marseille

Ein Leben zwischen Beobachtung und Verantwortung.

Als Varian Fry 1935 an Bord des Transatlantikliners Bremen nach Europa reiste, war er noch ein junger Journalist, getrieben von Neugier, Scharfsinn und einem unbestechlichen Blick für die politischen Spannungen seiner Zeit. Schon auf der Überfahrt, zwischen Diplomaten, Geschäftsleuten und Emigranten, hörte er Gespräche über Hitlers Arbeitsbeschaffungsprogramme, über Devisenkontrollen und über den wachsenden Antisemitismus. Es war eine Vorahnung dessen, was ihn auf dem Kontinent erwartete.

In Berlin bezog er Quartier in der Hotel-Pension Stern am Kurfürstendamm, einem bürgerlichen Haus im Herzen der Hauptstadt. Dort, in den Frühstücksräumen, beim Rascheln der Zeitungen, führte er seine ersten Interviews: Politiker, die noch zwischen Loyalität und innerem Widerstand schwankten, Wirtschaftsführer, die im Regime ebenso Bedrohung wie Chance sahen, und Universitätsdozenten, die zwischen akademischer Vorsicht und offener Ideologietreue lavierten. Doch Fry hörte nicht nur den Stimmen der Eliten zu. Er sprach mit Ladenbesitzern, die von Boykottaktionen berichteten, mit Kellnern, die im Flüsterton von verschwundenen Gästen erzählten, mit Kirchenbesuchern, die den Druck auf ihre Pfarrer schilderten, und mit Taxichauffeuren, deren nüchterner Zynismus oft mehr Wahrheit enthielt als die offiziellen Parolen.

Der Kurfürstendamm wurde für Fry zu einem Brennspiegel. Elegantes Flanieren und Einschüchterung durch SA-Männer existierten nebeneinander. Eines Abends geriet er in eine Straßenschlacht: Studenten protestierten gegen die Gleichschaltung, SA-Männer trieben sie mit Stiefeln und Schlagstöcken auseinander. Fry, der nur beobachten wollte, wurde in das Getümmel hineingezogen. Er entkam, aber nicht ohne Verletzungen – und nicht ohne ein Bild jener Gewalt, die er später so eindringlich beschrieb. Berlin hatte ihm gezeigt, wie tief Ideologie, Angst und Gewalt bereits in den Alltag eingedrungen waren.

Als Fry 1940, nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich, im Auftrag des Emergency Rescue Committee nach Marseille entsandt wurde, war er vorbereitet. Was er in Berlin nur beobachtet hatte, bestimmte nun sein Handeln: Menschen retten, die auf den schwarzen Listen der Gestapo standen.

Marseille, der letzte große Hafen im unbesetzten Frankreich, war ein Ort der Hoffnung und Verzweiflung zugleich. Flüchtlinge aus ganz Europa strömten dorthin – Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler, politische Dissidenten. Fry arbeitete unter dem Deckmantel eines Journalisten, doch sein eigentlicher Auftrag war die Organisation einer Rettungsmaschine, die zugleich improvisiert und lebensgefährlich war.

Sein Team war bunt zusammengesetzt: Miriam Davenport, die Kunsthistorikerin; Mary Jayne Gold, eine wohlhabende Amerikanerin, die Geld und Mut beisteuerte; Daniel Bénédite, der französische Gewerkschafter, der Kontakte zu Beamten und Arbeitern hielt; später auch der junge Ökonom Albert Hirschman, der Pässe fälschte und Fluchtwege organisierte. Gemeinsam retteten sie Hunderte – unter ihnen Marc Chagall, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Max Ernst, Hannah Arendt und viele andere, deren Werk das kulturelle Gedächtnis des 20. Jahrhunderts prägt.

Die Kooperation der USA war ambivalent. Das Emergency Rescue Committee hatte ihn entsandt, doch Washington hielt Distanz: Offiziell wollte man keine Konfrontation mit Vichy-Frankreich oder Berlin riskieren. Fry agierte daher im Graubereich, geduldet, aber misstrauisch beäugt. Auch Frankreich zeigte zwei Gesichter: Einzelne Beamte halfen im Stillen, doch die Vichy-Administration kooperierte eng mit den Deutschen und lieferte Flüchtlinge aus. Nur durch Bestechungen, Fälschungen und heimliche Netzwerke gelang es Fry, seine Arbeit fortzuführen.

Von Marseille aus reichten seine Kontakte auch an die Côte d’Azur: nach Nizza und nach Sanary-sur-Mer, wo bereits seit den frühen 1930er Jahren deutsche Exilanten lebten – Heinrich und Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Alma Mahler-Werfel und viele andere. Fry knüpfte an diese Strukturen an, half beim Weitertransport, organisierte Visa und Schiffspassagen nach Spanien und Portugal. So verband er die Fluchtwege an der Küste mit den Rettungsrouten in Marseille.

Doch 1941 setzte Vichy seiner Arbeit ein Ende. Fry wurde ausgewiesen, ausgelaugt und von Schuldgefühlen geplagt, weil er nicht alle retten konnte. Zurück in New York berichtete er, schrieb 1945 sein Buch Surrender on Demand, doch es blieb lange unbeachtet. Amerika wollte in den ersten Nachkriegsjahren nicht erinnert werden an jene Zeit der Untätigkeit, als Einzelne mehr Mut gezeigt hatten als Staaten. Fry selbst lebte am Rande der intellektuellen Szene, gezeichnet von dem, was er erlebt hatte.

Erst Jahrzehnte später erhielt er die Anerkennung, die ihm gebührte. 1996 ehrte ihn Yad Vashem als ersten Amerikaner mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern“. Auch in Frankreich und Deutschland erinnert man heute an den „amerikanischen Schindler“, der nicht aus politischem Kalkül, sondern aus moralischer Klarheit handelte.

Varian Fry war Beobachter und Akteur zugleich. In Berlin hatte er gelernt, hinter die Fassaden zu sehen, in Marseille hatte er gehandelt, in den USA hatte er für Erinnerung gestritten. Sein Lebensweg – von den Salons des Linienschiffs Bremen über die Pension Stern am Kurfürstendamm bis zu den improvisierten Rettungsbüros in Marseille – ist ein Zeugnis dafür, dass auch ein Einzelner im Angesicht der Gewalt Verantwortung übernehmen kann.

Varian Fry

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