Vorabdruck aus “Deutsche Auswanderer”

Schicksale über 3 Jahrhunderte – von Klaus Kampe

Kapitel 4 – Land der Versprechen

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Conrad Weiser, die Quäker und der Preis der Freiheit

„Ich habe zwei Sprachen gelernt –
die der Väter, die alles zählen,
und die der Irokesen, die alles erzählen.
Die Wahrheit liegt dazwischen.“

— Conrad Weiser, Brief an seine Frau Anna Eva, ca. 1737

1. Das Erbe der ersten Generation

Als die zweite Generation der Deutschen in Pennsylvania erwachsen wurde, war die Wildnis kein Feind mehr, sondern Besitz. Land war das neue Evangelium. Wer es hatte, galt als gesegnet; wer es verlor, als gestraft.

Die ersten Einwanderer hatten das Land als Gnade empfangen – frei, offen, grenzenlos. Doch nun musste jeder Anspruch mit Papieren, Siegeln und Grenzsteinen belegt werden. Und gerade da begann eine neue Art Krieg: leise, juristisch, genährt von Gier, Unkenntnis und Misstrauen.

Johann Conrad Weiser senior, der einst in Germantown als einfacher Siedler begonnen hatte, geriet bald in Streit mit der Krone von New York. Man versprach den deutschen Familien Land im Tal von Schoharie, doch als sie ankamen, war es bereits verkauft – an Spekulanten, die ihre Papiere aus London, Den Haag oder gar Frankfurt bezogen hatten. Die deutschen Siedler nannten es das „Land der Lügenurkunden“.

„Man gab uns Wald, den wir mit Blut kauften, und nannte uns ungehorsam, weil wir den Vertrag nicht lesen konnten.“
– Aus der „Schoharie Petition“, 1718

2. Die Händler des Bodens

In jenen Jahren tauchte in den Akten der Kolonialverwaltung ein Name auf, der bald unter den Deutschen kursierte wie ein Fluch: Johannes Tschudi. Ein Mann aus Zürich, einst Notar, dann Handelsagent, schließlich Landkommissar – und, wie man später herausfand, ein geschickter Fälscher.

Tschudi war einer jener Grenzgänger zwischen Legitimität und Betrug, wie sie das koloniale Zeitalter reichlich hervorbrachte. Er verfügte über Siegel und Wappen, die täuschend echt wirkten, und stellte Siedlungszertifikate aus, die angeblich vom Gouverneur von Pennsylvania stammten. Für eine Gebühr von „zwei Louisd’or pro Familie“ versprach er 200 Morgen Land, dazu das Recht auf Holz, Viehweide und Steuerfreiheit für sieben Jahre.

In einem erhaltenen Pamphlet aus seiner Hand heißt es:

„Nachricht von dem fruchtbaren Land Penn-Sylvania, wo Milch, Honig und Gerechtigkeit fließen, und ein jeder Mann sein eigener König sein mag.“

Das Blatt kursierte zwischen Frankfurt, Straßburg, Ulm und Zürich. Viele glaubten es – nicht zuletzt, weil es auf Pergament mit kolonialem Siegel gedruckt war, das in London nachgemacht wurde. Wer sich einschreiben ließ, erhielt eine Landkarte mit eingezeichneten Grundstücken – oft auf Gebieten, die es gar nicht gab.

Ein Nachfahre der Familie Braun aus der Pfalz schrieb 1751:

„Wir trugen die Karte in der Brusttasche über das Meer, und als wir ankamen, zeigte man uns Sumpf und Geröll. Doch da wir nun hier waren, begannen wir zu graben – nicht nach Gold, sondern nach Wahrheit.“

Tschudi verschwand eines Tages spurlos. Einige Berichte behaupten, er sei in der Karibik gestorben, andere, er habe in London eine neue Identität angenommen. Zurück blieb ein Netz aus Enttäuschung und Misstrauen, das sich tief in die deutsche Gemeinschaft einbrannte.

3. Die Anwerber – Stimmen der Verheißung

Nicht alle Lügen kamen von Einzeltätern. Ab den 1720er-Jahren entwickelte sich ein regelrechtes Geschäft mit dem Traum vom „neuen Leben“. In Rotterdam und Hamburg eröffneten Emigrantenagenturen, die für Schiffspassagen nach Philadelphia warben. Ihre Flugblätter hießen “Bericht über das glückselige Land Pennsylvanien“ oder “Einfältige Beschreibung der herrlichen neuen Welt“.

Ein besonders bekanntes Pamphlet von 1726 versprach:

„Dort ist keiner des anderen Knecht,
und die Erde trägt ohne Zwang.
Kein Zehnt, kein Krieg, kein Fürst.“

Doch was verschwiegen wurde: Die meisten Schiffspassagen wurden auf Kredit bezahlt. Wer die Überfahrt nicht bar begleichen konnte, unterschrieb einen Vertrag der „indentured servitude“ – Schuldknechtschaft. Viele Deutsche kamen in Philadelphia an und mussten ihre Arbeitskraft für vier bis sieben Jahre an reiche Pflanzer oder Händler verkaufen.

Conrad Weiser notierte in einem seiner frühen Briefe:

„Sie kamen als freie Leute und wachten als Knechte auf.
Die Schiffe brachten keine Hoffnung, sondern Hypotheken.“

Die Händler der Überfahrt nannten es „redemptioner system“.
Ein Begriff, der das Wort „Erlösung“ perfide ins Gegenteil kehrte.

4. Der Gouverneur und die Rebellen

Der britische Gouverneur Robert Hunter sah die deutschen Siedler als nützliche Untertanen – fleißig, duldsam, steuerpflichtig. Doch als sie sich weigerten, Steuern für Land zu zahlen, das ihnen nie gehörte, sprach er:

„Die Deutschen sind gute Bauern, aber schlechte Untertanen.
Sie glauben an Gott, aber nicht an Gesetze.“

Hunter schickte Truppen, um Schoharie zu „befrieden“. Doch die Deutschen verschanzten sich, verweigerten den Eid, und in der Wildnis am Mohawk River kam es beinahe zu einer offenen Rebellion.

Johann Weiser schrieb:

„Wir sind nicht aufgestanden gegen den König, sondern gegen den Betrug.
Wer Land verspricht und dann stiehlt, sündigt gegen Gott, nicht gegen die Krone.“

5. Conrad Weiser – Der Sohn zwischen zwei Welten

Conrad war der Mittler – zwischen Vater und Obrigkeit, zwischen Deutschem und Englischem, zwischen Siedlern und Irokesen. Er erkannte früh, dass Besitz auch Sprache war. Wer das Englische beherrschte, besaß Land, wer nur Deutsch sprach, blieb Pächter seiner Träume.

In einem seiner Aufzeichnungen findet sich der Satz:

„Ich habe gelernt, dass Freiheit in Verträgen endet,
wenn der Stift des anderen das letzte Wort hat.“

Conrad wurde Übersetzer, Vermittler, später Berater der Kolonialregierung.
Er sah, wie seine Landsleute betrogen, entrechtet, aber auch selbst gierig wurden. Der Kreis begann sich zu schließen: Die Opfer wurden zu Besitzenden, die nächsten Armen kamen nach.

6. Die Landpapiere und der neue Glaube

Im Jahr 1740 kursierten in Pennsylvania mehr gefälschte als echte Landurkunden. Deutsche Kolonisten kauften sie auf Märkten, aus Wagen heraus, und Tavernen. Manche wussten, dass sie falsch waren – andere wollten es nicht wissen. Glaube wurde Geschäft.

Ein Eintrag im Tagebuch des Quäkers John Logan, 1741:

„Die Deutschen sind fromm, doch ihre Frömmigkeit ist kein Schutz gegen die Versuchung des Eigentums.“

So entstand eine Kultur der Rechtfertigung: Man sagte, Gott habe das Land gegeben – also könne kein Mensch es verweigern. Die Bibel wurde zur Urkunde, das Wort zur Besitzurkunde. Ein gefährlicher Gedanke, der sich tief in das Selbstverständnis der Kolonien fraß.

7. Die Rückkehr des Erzählers

Philadelphia, 1887.
Ecklin sitzt wieder im Archiv.
Er hat nun nicht nur Günters Buch gelesen, sondern auch Weisers Briefe, Tschudis gefälschte Dokumente, Pamphlete, Ratsprotokolle.
Ein Mosaik aus Hoffnungen, Betrug und Glauben liegt vor ihm.

Er notiert:

„Vielleicht war der größte Irrtum nicht, dass sie belogen wurden – sondern dass sie glaubten, Freiheit sei käuflich.“

Draußen läuten die Glocken der deutschen St. Michaelskirche. Auf der Straße verkauft ein Mann Drucke mit der Aufschrift: „Ein Stück Land in Dakota – 100 Morgen, 10 Dollar!“
Ecklin schließt die Augen.
Dreihundert Jahre sind vergangen, und die Sprache der Verheißung klingt noch immer gleich.

„Wir gingen, weil wir glaubten, das Land sei frei. Nun weiß ich: Nur der Mensch kann frei sein – und auch das nur kurz.“


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