Stadtwende in Stralsund

Altstadtverfall | Bürgergruppen | DDR 1989

„Zur Zeit stehen noch 1.350 Gebäude, von denen 273 als Baudenkmale eingestuft sind. Fachleute gehen davon aus, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch 75% dieser Substanz zu retten sind.“

Mit diesen Zahlen unterstrich der ehemalige Stralsunder Stadtarchivar Herbert Ewe 1990 seine Forderung an die damalige Bundesbauministerin Gerda Hasselfeldt, die Stadterneuerung in Stralsund maßgeblich zu unterstützen. Der Hintergrund: In den 1980er Jahren war der Verfall der Stralsunder Altstadt immer augenscheinlicher geworden. Nicht nur waren viele historische Gebäude marode, sondern auch die öffentlichen Räume und die technische Infrastruktur waren stark in Mitleidenschaft gezogen. Dazu kam, dass zum Beispiel immer mehr Geschäfte schließen mussten und die Altstadt als Wohnstandort nicht mehr attraktiv war. Die Folge waren Leerstand und weiterer Verfall.

Im Umfeld des gesellschaftlichen Aufbruchs im Wendeherbst von ’89 mobilisierte Herbert Ewe viele Stralsunderinnen und Stralsunder, sich für die Altstadt einzusetzen. Schnell organisierte man sich als „Bürgerkomitee“, um den Anliegen der Denkmalpflege und Stadterneuerung mehr Nachdruck verleihen zu können. So forderte die Gruppe um Ewe zum Beispiel im Dezember 1989 einen allgemeinen Abrissstopp beim Rat der Stadt ein – mit Erfolg.

Nicht nur in Stralsund, in vielen Städten der DDR entstand 1989 ein ganzes Spektrum an Initiativen und Gruppen, die sich für den Erhalt und die Erneuerung der teilweise stark verfallenen Altstädte einzusetzen. Diesen Aktivitäten widmet sich seit 2019 ein Forschungsprojekt, das aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven auf den Zusammenhang von Stadterneuerung, Friedlicher Revolution und Wiedervereinigung blickt. Forscherinnen und Forscher aus Kaiserslautern, Kassel, Weimar und Erkner bei Berlin untersuchen nicht nur diese Bürgergruppen aus bewegungsgeschichtlicher Perspektive, sondern zeichnen auch die Pfadabhängigkeiten der DDR-Altstadtpolitik nach, rekonstruieren Lebensläufe von Fachleuten, analysieren die Rolle von Kulturinstitutionen für die Altstadterneuerung oder fragen nach deutsch-deutschem Fachaustausch – vor, während und nach dem Herbst 1989. Stralsund ist eine von zehn Städten, die dabei als besonders aufschlussreich für die Forschung ausgemacht wurden.

Das Engagement für die Erhaltung der Altstadt war nichts Neues in der Stadt am Strelasund. Schon 1956 gab es ein groß angelegtes Forschungsprojekt zur städtebaulichen Denkmalpflege am Beispiel Stralsunds, unter Leitung der Deutschen Bauakademie, der wichtigsten Forschungseinrichtung des Bauwesens in der DDR. Zusammen mit Görlitz und Quedlinburg hatte die DDR-Denkmalpflege die Altstadt schon 1962 als Ensemble in die erste offizielle Denkmalliste der DDR aufgenommen, was allerdings mehr symbolischen Charakter haben sollte. Es gab aber auch schon früh private oder fachliche Initiativen für Denkmalpflege. So war zum Beispiel Käthe Rieck, die ehemalige Leiterin des Kulturhistorischen Museums, in den 1960er Jahren die erste Vertrauensfrau für Denkmalpflege und in dieser Position ehrenamtlich dafür zuständig, sowohl in der Stadtbevölkerung als auch in der Verwaltung für die Belange der Denkmalpflege zu werben. In anderen Städten der DDR wurden in diesen Jahren umfangreiche Abrissplanungen für die alten Stadtkerne erstellt.

Dann sollte sich der Wind drehen. Die Erneuerung von Altstädten wurde in der DDR rhetorisch aufgewertet und Mittel für die Modernisierung wurden immer wieder versprochen. In der Praxis passierte allerdings zu wenig. Neubaugebiete an den Stadträndern waren schließlich besser für die Bilanzen des DDR-Bauwesens. Der Altstadterhalt wurde staatlicherseits auf die lange Bank geschoben. Im Kleinen gab es aber ein ganzes Spektrum an Initiativen: 1975 gründete eine Gruppe junger Stralsunder Baufachleute zum Beispiel eine Fachgruppe für Denkmalpflege beim Kulturbund der DDR. Auch Herbert Ewe hat sich in seiner Position als Leiter des Stadtarchivs engagiert. Ihm ist besonders zu verdanken, dass viele Stralsunderinnen und Stralsunder nach Feierabend angepackt haben, um das Johanniskloster zu großen Teilen als Sitz des Archivs instandzusetzen. Ewe ist es gelungen, immer wieder Mittel, Material und helfende Hände dafür zu mobilisieren. 1989 war er es, der bis zu 300 Menschen um sich scharte, um die Stadterneuerung zum politischen Gegenstand der Demokratisierungsbewegung zu machen.

Stadtwende Stralsund
Stadtwende Stralsund
Stadtwende Stralsund 2
Das Heilgeistkloster in Stralsund war 1990 zwar in einem ruinösen Zustand, wurde aber noch von vielen Menschen bewohnt. Seine Sanierung war das erste größere Bauprojekt der Zeit nach der Wende. In der Zwischenzeit schienen sich die Interessen der Bauenden und der Bewohnenden zu widersprechen – ein Grund für Protest. Später resümiert die Architektin Adelheid Horn-Henn: „Zweifellos war es streckenweise ein holpriger Weg bis zum Ergebnis. Aber es ist auch spannend, was innerhalb von nur rund zehn Jahren ein einem ehemals gemiedenen Wohnquartier geschaffen wurde: Ein lebendiger Anziehungspunkt für Wohnungssuchende und Touristen.“ Abbildung: Stadterneuerungsgesellschaft Stralsund: Broschüre: Kloster zum Heiligen Geist. Gestalt und Farbe.

Die Erneuerung der Stralsunder Altstadt ist aber auch Teil der deutsch-deutschen Geschichte der Stadterneuerung. Im Januar 1990 beschlossen die beiden deutschen Bauministerien ein

Modellprogramm zur vorbildhaften Sanierung von erst vier, dann fünf ostdeutschen Städten. Stralsund wurde somit, zusammen mit Weimar, Meißen, Brandenburg an der Havel und später Halberstadt zu einem Experimentallabor, wo die Stadterneuerung erst als Kooperationsprojekt von Bundesrepublik und DDR, dann nach bundesdeutscher Gesetzgebung erprobt werden sollte.

Zu einem Sonderfall kam es bei der letzten Sitzung des Runden Tisches in Stralsund, den „Stralsunder 20“. Sie beschlossen die Gründung der Stadterneuerungsgesellschaft Stralsund (SES), eines Sanierungsträgers, der zur Hälfte der Hansestadt und zur Hälfte einer Kieler Stadterneuerungsgruppe gehört. In wenigen anderen Städten in den Neuen Bundesländern wurden damit Kompetenzen und Kenntnisse eines Trägers so eng an die Kommune gebunden. Sanierungsträger unterstützen die Städte bei planerischen und organisatorischen Belangen der Stadterneuerung.

Die Aufbruchsstimmung hielt allerdings nicht lange an. In ganz Ostdeutschland galt es nun, die Schwierigkeiten der Stadtentwicklung unter kapitalistischen Bedingungen zu meistern. Ein Hindernis stellte besonders das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ dar, das besagte, dass Alteigentum an die vormaligen Besitzer rückübertragen werden sollte. In allen Teilen Ostdeutschlands ächzten die Stadtverwaltungen unter der regelrechten Flut an Anträgen. In der Zwischenzeit wurden diese Objekte dem weiteren Verfall preisgegeben. Indes nutzten viele Familien die neuen Möglichkeiten und bauten Einfamilienhäuser am Stadtrand. An den Stadträndern entstanden zudem große Shopping-Center, die dem Einzelhandel in den Altstädten Konkurrenz machten. In Stralsund war die Talsohle 1998 erreicht. Nur noch knapp über 3.000 Menschen lebten damals in der Altstadt. Nur wenige Jahre später schon folgte die Eintragung in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes, in der Folge konnte der Trend nachhaltig umgekehrt werden.

Die verbleibenden Baustellen in der Altstadt sind also überschaubar geworden. Während in anderen Städten die Erneuerung und Funktionserhaltung der Altstädte unter Bedingungen der Schrumpfung eine bleibende Aufgabe geblieben ist, werden im Stralsunder Zentrum schon länger die Flächen knapp. Umso leidenschaftlicher wird über jede Parzelle diskutiert. Dass dabei immer noch Akteure aus der Zeit der Friedlichen Revolution mitdiskutieren, ist keine Selbstverständlichkeit.

So stellt die Ausstellung zur „Stadtwende“ folgerichtig die Frage: Wie wollen wir heute leben? Und wem gehört die (Alt-)Stadt? Denn unabhängig von den wirtschaftlichen oder sozialen Perspektiven erfreuen sich die Altstädte einer größeren Beliebtheit denn je. Was damals Teil der demokratischen Öffnung der DDR und der sich anschließenden Wiedervereinigung war, ist heute wieder bedroht. Seien es steigende Mieten, Kulissenarchitektur, die einseitige Ausrichtung auf den Tourismus oder allzu große Abhängigkeit vom Einzelhandel in den Fußgängerzonen – die Zukunft nicht nur der ostdeutschen Innenstädte muss stets neu verhandelt werden, ohne dabei zu vergessen, die Altstädte als etwas Gewordenes, als Ergebnis menschlichen Schaffens zu betrachten.

Quelle:

Beitrag von Jannik Noeske, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Lehrstuhl Raumplanung und Raumforschung der Fakultät Architektur
und Urbanistik an der Bauhaus-Universität Weimar und Projekt-Pate
„Stadtwende in Stralsund“

Abbildungsunterschriften:

Abb. 1:

Das Stralsunder Johanniskloster gehört zu den bedeutenden Klosteranlagen Norddeutschlands. 1944 wurde es teilweise zerstört. Der damalige Direktor des Stadtarchivs Herbert Ewe begann bereits 1963, Mittel und Wege für die Sanierung der denkmalgeschützten Klosteranlage zu sichern. Dazu gehörte besonders die Aktivierung von sogenannten Feierabendbrigaden, die nach der regulären Arbeit im Betrieb noch Hand bei der Sanierung des Klosters anlegten. Nach getaner Arbeit gab der “Professor” gerne ein Glas Rotwein oder Schnaps aus. Bis heute ist das Johanniskloster Sitz des Stadtarchivs, die Sanierung allerdings noch nicht abgeschlossen. Foto: Günter Ewald 1982, Bildquelle: Stadtarchiv Stralsund, JK-02-094.

Abb. 2:

Nicht nur für Demokratie und freie Meinungsäußerungen gingen die Menschen im Herbst 1989 auf die Straße – bei einer Demonstration in Stralsund wurde auch die gerechte Verteilung von Wohnraum gefordert. Die Lebensbedingungen in den Städten der DDR war ein Stein des Anstoßes für die Demokratiebewegung in der DDR. Dazu gehörte auch das Aufbegehren gegen den immer sichtbarer werdenden Altstadtverfall. Foto: Stefan Sauer 1989.

Abb. 3:

Das Heilgeistkloster in Stralsund war 1990 zwar in einem ruinösen Zustand, wurde aber noch von vielen Menschen bewohnt. Seine Sanierung war das erste größere Bauprojekt der Zeit nach der Wende. In der Zwischenzeit schienen sich die Interessen der Bauenden und der Bewohnenden zu widersprechen – ein Grund für Protest. Später resümiert die Architektin Adelheid Horn-Henn: »Zweifellos war es streckenweise ein holpriger Weg bis zum Ergebnis. Aber es ist auch spannend, was innerhalb von nur rund 10 Jahren ein einem ehemals gemiedenen Wohnquartier geschaffen wurde: Ein lebendiger Anziehungspunkt für Wohnungssuchende und Touristen.«


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